Aus dem Nichts ein Knall
Elisabeth F. war 2017 eine von rund 3500 Personen, die sich in der Schweiz bei einem Autounfall schwer verletzt haben. Mit mehreren Knochenbrüchen wurde sie von der Rega zum KSW geflogen, wo sie mehrmals operiert und behandelt wurde. Heute sind die Folgen des Unfalls fast gänzlich überwunden. Ein Beispiel, das zeigt, wie wichtig es ist, dass man nach einem solchen Schicksalsschlag von Anfang an in gute Hände kommt. Plötzlich wie aus dem Nichts ein Knall. Dann wurde alles schwarz, und die Welt stand wie für einen Moment still.
An einem Samstag Ende Januar 2017 nahm das Leben von Elisabeth F. eine schicksalhafte Wendung, wie sie jedem passieren kann. Um die Mittagszeit fuhr sie damals wie schon viele Male zuvor mit ihrem Kleinwagen von Rothenhausen, wo sie Einkäufe gemacht hatte, zurück zu ihrem Wohnort Mettlen im Kanton Thurgau. Auf dieser Ausserortsstrecke, auf der Tempo 80 gilt, war die Frau schon hunderte Male unterwegs gewesen, stets problemlos. An jenem Tag aber verlor der Lenker eines entgegenkommenden Wagens die Kontrolle über sein Fahrzeug, so dass es in einer leichten Kurve und bei regennasser Strasse zu einem Frontalzusammenstoss kam.
Nichts mitbekommen
Von all dem bekam Elisabeth F. nichts mit. Erst am Sonntagmorgen kehrte ihr Bewusstsein zurück. Da lag sie schon in der Intensivabteilung am KSW – mehrfach operiert. Dieser Unfall war einer von genau 17 799 im Jahr 2017, bei denen Personen zu Schaden kamen. 3654 Personen wurden dabei schwer verletzt, eine davon war Elisabeth F.. In der Zeit, an die sie keine Erinnerung hat, musste sie zuerst von der Feuerwehr aus ihrem Auto geschnitten werden. Dann flog ein Helikopter der Rega sie zum KSW, wo sie wegen akuter Lebensgefahr direkt in den Schockraum kam.
«Anhand eines Polytrauma-CTs und spezieller Röntgenbilder konnte ihr Zustand analysiert und eine Auslegeordnung gemacht werden.»
Für Prof. Dr. med. Christoph Meier, der an jenem Wochenende Dienst hatte, war sofort klar, dass die Patientin schwer verletzt war. Anhand eines Polytrauma-CTs und spezieller Röntgenbilder konnte ihr Zustand analysiert und eine Auslegeordnung gemacht werden. Ein Blick in ihre Krankenakte zeigt, dass sie sich neben einem Schädel-Hirn-Trauma mehrere Frakturen zugezogen hatte: an Rippen, Becken, Hüfte, Oberschenkeln, Schienbein, Fussgelenk, Hand und Fingern.
«17’799 Autounfälle in der Schweiz im Jahr 2017. 3654 Personen wurden dabei schwer verletzt.»
Sequenzielle Abfolge der Operationen
Ausser einem leichten Schädel-Hirn-Trauma und den erwähnten Rippenfrakturen waren die Körperhöhlen in Ordnung. Im Sinn von Damage Control wurde ein doppelter Oberschenkelbruch links mit einem Marknagel versorgt und der Oberschenkelbruch auf der Gegenseite nur provisorisch stabilisiert. Den Rest liess man vorerst in Ruhe, um die zusätzliche Belastung der Patientin nach dem schweren Unfall möglichst gering zu halten. Drei Tage später waren die Rekonstruktion des Beckens und die definitive Versorgung des rechten Oberschenkels an der Reihe. Fünf Tage nach dem Unfall wurden der Schienbeinkopf, das Handgelenk und die Finger operiert. Der letzte Eingriff fand weitere fünf Tage später statt und umfasste die Frakturen an Knöchel und Sprungbein.
«Über die sequenzielle Abfolge der Operationen entschieden der allgemeine Zustand der Patientin und der Grad der Erholung der Weichteile.»
Die sequenzielle Abfolge der Operationen wurde aufgrund des allgemeinen Zustands der Patientin und des Grads der Erholung der Weichteile festgelegt. Schon am KSW wurde mit Rehabilitation und Physiotherapie begonnen. Insgesamt verbrachte Elisabeth F. dreieinhalb Wochen im KSW. Anschliessend wurde sie für die Rehabilitation zuerst nach Zurzach und dann nach Bellikon verlegt. Dort sass sie neben Querschnittgelähmten zunächst in einem Rollstuhl, weil beide Beine operiert waren und sie sie nicht belasten durfte. Anschliessend musste sie Schritt für Schritt wieder gehen lernen. Zuerst an zwei Stöcken, dann an einem. «Die Zeit in Bellikon hat mir gezeigt, dass ich zwar Pech gehabt hatte, aber irgendwie doch auch Glück. Es hätte alles noch viel schlimmer kommen können.» Während der Reha kehrte Elisabeth F. zweimal zur Kontrolle ans KSW zurück. Vom Unfallverursacher, der nur leicht verletzt wurde, hat sie nie etwas gehört. Das wollte sie aber auch nicht, da sie ja vom Unfall gar nichts mitbekommen hatte. Sie hegt aber auch keinen Groll gegen ihn.
«Ich hatte von Anfang an volles Vertrauen in die Ärzte und die Pflegenden und bin mit dem Resultat völlig zufrieden.» Elisabeth F.
Eine positive Grundhaltung ist wichtig
Christoph Meier ist sehr zufrieden mit seiner Patientin. Alle Verletzungen seien gut verheilt, und es habe keine posttraumatischen Störungen gegeben. «Frau F. hat alle Narkosen gut weggesteckt und war immer positiv eingestellt.» Sie habe immer nach vorn geschaut und nie mit dem Schicksal gehadert. «Eine positive Grundhaltung ist wichtig bei einem solchen Verletzungsbild.» Elisabeth F. ist voll des Lobes für die Behandlung am KSW. «Ich hatte von Anfang an volles Vertrauen in die Ärzte und die Pflegenden und bin mit dem Resultat völlig zufrieden.» Wenn sie ehrlich sei, sei es besser herausgekommen, als sie erwartet habe. «Es ist einfach nur herrlich, dass ich wieder gehen kann.» Nach vier Monaten stieg sie schon wieder in ein Auto, fuhr zuerst auf einem leeren Parkplatz wie eine Fahrschülerin. Als sie merkte, dass es gut ging, wagte sie sich auch wieder auf die Strasse. Fast täglich kommt sie mit dem Auto an der Unfallstelle vorbei, was ihr nichts ausmacht. «Weil ich keine Erinnerung an den Zusammenstoss habe, habe ich auch kein schlechtes Gefühl», sagt sie. Noch bevor sie sich wieder hinters Steuer setzte, hatte sie begonnen, in ihrem Nähatelier zu arbeiten, anfänglich wenig, dann zunehmend mehr.
«Es ist einfach nur herrlich, dass ich wieder gehen kann.» Elisabeth F.
In der Zwischenzeit haben ihr die Ärzte am KSW verschiedene Nägel, Schrauben und Platten wieder herausgenommen, zum letzten Mal am 20. September dieses Jahres. Da kam der Marknagel im rechten Oberschenkel raus. Christoph Meier hätte gewisse Nägel an Ort und Stelle belassen, aber Elisabeth F. wollte das nicht. Nur am linken Handgelenk bleiben die Platte und die Schrauben für immer drin.
Zurück auf die Skipiste
Anderthalb Jahre nach dem verhängnisvollen Unfall kann Elisabeth F. schon wieder problemlos wandern und Velo fahren. Im vergangenen Sommer hat sie zusammen mit ihrem Mann in zwei Wochen 740 Kilometer mit dem Velo zurückgelegt – schmerzfrei. Vor allem Velofahren ist gut für sie, weil da- bei die Gelenke nicht allzu stark belastet werden. Und auch auf die Skipiste ist das Unfallopfer in diesem Winter zurückgekehrt. Für Christoph Meier ist der Fall eigentlich abgeschlossen: «Anatomisch stimmt alles.» Die Voraussetzungen, dass Elisabeth F. nie ein künstliches Hüftgelenk brauchen wird, seien gegeben. Das hört sie natürlich gern. Sollte die Prognose des Arztes zutreffen, hat sie wirklich Glück im Unglück gehabt. Und eine gute Betreuung.
Massgeschneiderte Konzepte
Interview mit Prof. Dr. med. Christoph Meier, Chefarzt, Leiter Traumatologie Klinik für Orthopädie und Traumatologie, KSW
Welche Patienten kommen zu Ihnen?
Prof. Dr. med. Christoph Meier: Als Traumatologen behandeln wir das ganze Spektrum von Verletzungen. Die meisten Patienten werden wegen Verletzungen einer einzigen Körperregion behandelt, wie zum Beispiel wegen eines ausgerenkten Schultergelenks oder eines Unterschenkelbruchs. Daneben kümmern wir uns schwerpunktmässig aber auch um Polytraumapatienten. Das sind Patienten, die sich eine schwere Verletzung zugezogen haben mit mehreren, teilweise komplizierten Schaft- und Gelenkbrüchen. So kann durchaus jemand eine Beckenfraktur erlitten und auch noch beide Oberschenkel, zum Teil auf mehreren Etagen, gebrochen haben. Diese Kombination für sich allein ist schon Ausdruck einer grossen Gewalteinwirkung. In schlimmeren Fällen kann noch ein schweres Körperhöhlentrauma dazukommen.
Was ist für Sie als Arzt jeweils die grösste Herausforderung?
Die Kombination der Verletzungen und das Erarbeiten des schonendsten und effizientesten Behandlungskonzeptes stellen eine knifflige Aufgabe dar. Solche Konzepte sind immer individuell und werden auf den Patienten und sein ganz spezielles Verletzungsmuster massgeschneidert.
Kann der Patient selber etwas beitragen?
Eine positive Grundhaltung ist absolut entscheidend und trägt massgeblich zu einem guten Verlauf bei. Solche Patienten sind einfach zu führen, weil sie sehr motiviert und mit voller Energie ihr Rehabilitationsprogramm absolvieren. Rückschläge, wie sie immer wieder vorkommen können, werden von solchen Patienten rasch angenommen und als Herausforderung gesehen, um noch mehr Energie in die Rehabilitation zu stecken.