Migräne schon im Kindesalter?
Tamara (Name geändert) merkt sofort, dass heute etwas anders ist. Das neunjährige Mädchen spürt den rechten Arm und auch das rechte Bein nicht richtig. Was der Primarlehrer im Geografieunterricht an die Tafel schreibt, kann Tamara nur mit Mühe lesen. Ein paar Minuten später bekommt sie starke Kopfschmerzen, so dass ihr der Lehrer rät, nach Hause zu gehen. Dort angekommen, muss sie mehrmals erbrechen.
Tamaras Mutter macht sich Sorgen, erst recht, als Tamara eine Stunde später erneut kein Gefühl in Arm und Bein hat und ihr übel wird. Kopfschmerzen und Erbrechen kennt Frau L. nur zu gut – sie leidet seit Jahren an Migräne. Aber Lähmungserscheinungen sowie eine Beeinträchtigung des Sehvermögens: Das kennt sie nicht. Diese Anzeichen hatte ihr Vater letztes Jahr bei einem Schlaganfall.
Obschon Tamara sich wieder erholt, fährt die Mutter sie zur Kinderärztin. Dort erhält Tamara Schmerzmittel und wird gleich ans Kantonsspital Winterthur überwiesen. In der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin kümmern sich Allgemeinpädiater:innen und auch Fachspezialist:innen aus verschiedenen Bereichen um Heranwachsende, von Neurologie und Kardiologie über Pneumologie und Gastroenterologie bis zu Dermatologie und Kinderpsychiatrie.
Vertrauen aufbauen
Als Frau L. mit Tamara im KSW ankommt, beurteilt eine Notfall-Pflegefachfrau, wie dringend das Kind untersucht werden muss. Weil es heute bereits zwei akute neurologische Symptome hatte, kommt es sogleich an die Reihe.
Désirée Odermatt, Abteilungsleiterin Pflege auf der Notfallstation für Kinder und Jugendliche, erklärt Tamara, weshalb sie gleich den Puls und die Temperatur messen wird. Während dieser pflegerischen Massnahmen fragt sie nach der Lieblingsbeschäftigung, um so einen Zugang zum Mädchen zu finden. «Eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind herzustellen, ist für uns selbstverständlich. Darauf können wir aufbauen», sagt Désirée Odermatt.
Zuhören, fragen und erklären
Auch Marc-André Buchwald, Stv. Leitender Arzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, der Tamara nun untersucht, redet viel mit ihr, fragt nach ihrem Arm und sagt, wie gut es sei, dass sie ihn wieder normal bewegen könne. «Bei Lähmungserscheinungen ist klar, dass ein Kind Angst hat. Da hilft es, es ernst zu nehmen und ihm in altersgerechter Sprache genau zu erklären, worum es sich handelt und dass es in diesem Fall sehr wahrscheinlich nichts Gefährliches ist», sagt er.
«Sämtliche dieser Ursachen klären wir ab, und das braucht etwas Zeit»
Wahrscheinlicher Grund für Tamaras Symptome ist eine Migräne. Auch weil ihre Mutter darunter leidet. Ebenfalls möglich ist aber eine Infektion oder eine Durchblutungsstörung im Gehirn, die durch einen Hirnschlag, einen Tumor oder einen Sturz verursacht wurde. «Sämtliche dieser Ursachen klären wir ab, und das braucht etwas Zeit», sagt Marc Buchwald.
Im Ungewissen zu sein, ist gerade für die Eltern belastend. Sie möchten möglichst schnell wissen, woran ihr Kind leidet. Da hilft es, dass Marc Buchwald Tamara und ihre Eltern ausführlich über das weitere Vorgehen informiert. Dabei behält er das Mädchen stets im Auge und benutzt einfache Worte. «Im Gespräch auf die Erwachsenenebene zu wechseln, versuche ich zu vermeiden. Das Kind sollte sich immer mit angesprochen fühlen.»
Je besser die Eltern und Tamara über die nächsten Schritte Bescheid wissen, desto leichter fällt ihnen das Warten. Sämtliche erforderlichen Untersuchungen können am KSW durchgeführt werden. Sicherheit erhält Frau L. zudem, als sie erfährt, dass Tamara über Nacht zur Überwachung im Spital bleibt.
Auf der Bettenstation sieht es auf den ersten Blick nicht wie in einem typischen Spital aus. An den Wänden hängen farbige Zeichnungen, auf einem Tisch liegt Bastelmaterial, in einer Ecke spielen drei Kinder an einem Töggelikasten.
Kaum hat sich Tamara in ihrem Zimmer hin- gelegt – sie teilt es mit einem Mädchen, das auf den Kopf gestürzt ist –, kommt schon ihr Vater zur Tür herein. Er bringt ihren Lieblingspyjama mit sowie zwei weitere Plüschtiere. Und seine eigenen Sachen, denn er wird im Liegebett neben seiner Tochter schlafen. Für einen Elternteil ist immer Platz.
Wer wie Tamara zur Überwachung im Spital ist, kann nicht ungestört schlafen. Alle drei Stunden kommt eine Fachperson und weckt das Mädchen, um nach einem standardisierten Verfahren seinen Bewusstseinszustand zu testen. Auch der Vater wird jeweils wach, doch beide schlafen schnell wieder ein, denn bei Tamara sind alle Werte unauffällig.
Jedes Kind ist anders
Am nächsten Morgen können die beiden etwas länger schlafen. Sie frühstücken erst kurz vor neun Uhr. «Wir achten darauf, dass die Kinder auch im Spital möglichst ihrem eigenen Rhythmus folgen können», sagt Sonja Gartenmann, Fachverantwortliche Pflege. «Jedes Kind ist anders, danach richten wir uns aus.»
Eine der fixen Zeiten, die eingehalten werden müssen, ist jene für das MRI, für das Tamara kurz vor Mittag angemeldet ist. Zuvor hat Marc Buchwald ihr bei der Visite erklärt, dass man damit ein Bild ihres Gehirns machen und so feststellen kann, ob es normal durchblutet wird.
Eine halbe Stunde muss das Mädchen in der engen Röhre liegen, da hilft es, dass sein Vater gleich neben dem Apparat sitzt. Zudem hört es über den Kopfhörer seine Lieblingsmusik.
15 000 Kinder werden pro Jahr auf der Kindernotfallstation versorgt
Schon bald darauf ist Tamara mit ihrem Vater für die Austrittsuntersuchung bei Dr. med. Regula Schmid. Die Leitende Ärztin Neuropädiatrie am Sozialpädiatrischen Zentrum des KSW erklärt, dass auf den Bildern ihres Gehirns nichts Ungewöhnliches zu erkennen sei. Noch ein Umstand, der dafür spricht, dass das Mädchen an Migräne erkrankt ist.
Eine Ursache kommt allerdings noch in Frage: Die Beschwerden könnten durch eine Epilepsie ausgelöst werden. Um auch diese Möglichkeit auszuschliessen, wird Tamara in drei Wochen noch einmal ins KSW kommen. Dann wird ein Elektroenzephalogramm (EEG) erstellt und geklärt, ob aufgrund der elektrischen Aktivität des Gehirns ein erhöhtes Risiko für Epilepsie vorliegt.
Tapfer sein zählt bei Migräne nicht
Bevor Tamara mit ihrem Vater wieder nach Hause darf, erklärt ihr Dr. Schmid, wie sie am besten mit Kopfwehattacken umgeht. Denn es ist möglich, dass das Mädchen erneut den einen oder anderen Migräneanfall haben wird. «Für das Kind ist es wichtig, zu wissen, dass die Beschwerden jedes Mal wieder vorübergehen. Ein Merksatz wie ‹Migräne – das kenn ich doch› wirkt auch beruhigend», sagt Dr. Schmid. Die Symptome können gezielt gelindert werden.
«Auf die Zähne zu beissen, ist bei Migräne der falsche Ansatz.»
Dazu erhält Tamara ein passendes Schmerzmittel sowie ein Medikament gegen Übelkeit. Diese Mittel soll sie von nun an immer dabeihaben und bei den ersten Anzeichen einer Migräneattacke einnehmen.
«Auf die Zähne zu beissen, ist bei Migräne der falsche Ansatz», sagt Dr. Schmid. «Wichtig ist auch, sich schnell hinzulegen. Denn Schlaf ist die beste Therapie. Das spüren die meisten Kinder intuitiv – anders als Erwachsene.» Zudem rät sie, die Anfälle in der Agenda einzutragen, um die Häufigkeit genau zu erfassen. Sollte die Migräne öfter als einmal pro Woche auftreten, gibt es wirksame Therapien.
Immer die gesamte Entwicklung des Kindes im Auge
Interview mit Liv Wittberger, Pflegeexpertin APN für Regulationsstörungen
Worin liegt der Unterschied, ob ein Kind oder eine erwachsene Person im Spital behandelt wird?
Bei beiden wird nach der besten Behandlung gesucht, bei Kindern achten wir zudem auf besondere Dinge. Bei ihnen gehört immer die ganze Familie dazu, Eltern, Geschwister und Grosseltern. Und das ganze Familiensystem wird betreut und begleitet.
Wir gehen auch flexibel und individuell vor und müssen den Zeitplan an die Bedürfnisse des Kindes anpassen, da bereits die Vorbereitung auf eine Intervention viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Zudem haben wir bei Kindern immer die gesamte Entwicklung im Auge und nicht nur die konkrete Erkrankung.
Was heisst das?
Wir haben immer ein Auge darauf, ob die Kinder ihrem Alter entsprechend entwickelt sind, und achten auf das gesamte System, in dem ein Kind aufwächst. Denn gerade bei chronischen Erkrankungen wie zum Beispiel Migräne brauchen die Kinder die Unterstützung der Eltern. Und es ist wichtig, zusammen mit der Familie herauszufinden, was genau sie als Familie benötigt, um mit dieser Belastung klarzukommen.
Wie gehen Sie vor? Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir führen mit den Familien ausführliche Gespräche über die Vorgeschichte der Erkrankung und das Familiensystem. Dabei fragen wir auch nach Belastungen und Sorgen der Eltern. Zudem erleben die Pflegenden die Familien während eines stationären Aufenthalts sehr nah. Uns hilft dabei, dass Kinder ihr Befinden sehr direkt zeigen. So können wir Bedürfnisse wahrnehmen und den Familien Unterstützung anbieten.
Jede Migräne ist anders
Interview mit Dr. med. Regula Schmid, Leitende Ärztin Neuropädiatrie am Sozialpädiatrischen Zentrum
Was zeichnet eine Migräne aus?
Die wichtigsten Symptome einer klassischen Migräne sind heftige Kopfschmerzen, Übelkeit sowie Licht- und Lärmempfindlichkeit. Doch Migräne äussert sich bei jeder Person anders. In 10–20% der Fälle gehen einem Anfall neurologische Anzeichen wie Augenflimmern voraus. In diesem Fall spricht man von einer Migräne mit Aura.
Ab welchem Alter kann Migräne auftreten?
Das ist schon bei Kleinkindern möglich, aber schwer zu erkennen. Es gibt auch Migräneformen, unter denen nur Kinder leiden, wie kurzer, plötzlicher Schwindel mit Erbrechen. Im Kindesalter sind Mädchen und Buben gleich häufig betroffen. Ab der Pubertät tritt Migräne hingegen öfter bei Frauen auf.
Nimmt eine Migräne bei Kindern einen anderen Verlauf als bei Erwachsenen?
Bei Kindern sind die Migräneanfälle meist kürzer. Gemäss der internationalen Klassifikation dauert eine Migräneattacke bei Erwachsenen mindestens vier Stunden, bei Kindern hält sie kaum so lange an. Die Schmerzen sind meist an der Stirn und nicht einseitig wie bei Erwachsenen.
Was sind die Ursachen für Migräne?
Die Ursachen der Migräne und die komplizierten Prozesse, die bei einer Attacke im Gehirn ablaufen, sind noch nicht vollständig erforscht. Genetisch bedingt reagiert das Gehirn von Betroffenen besonders empfindlich auf innere und äussere Reize. Das erklärt, dass zum Beispiel bei Schlafmangel oder Stress Migräneanfälle auftreten.
Was ist die beste Behandlung?
Häufig therapieren sich Kinder selber, indem sie sich schlafen legen. Zudem sind Schmerz- oder spezifische Migränemittel, die gewisse Botenstoffe im Gehirn
beeinflussen, in der Lage, die Anfälle zu lindern oder zu verkürzen. Bei häufigen Attacken kann eine medikamentöse Basistherapie, zum Beispiel mit hochdosiertem Magnesium, wirksam sein.
Schneller optimal versorgt: der neue Notfall für Kinder und Jugendliche
Interview mit Dr. med. Heiko Sältzer, Chefarzt Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin
Der Notfall Kinder- und Jugendmedizin hat Anfang August neue Räumlichkeiten im Notfallzentrum bezogen. Was hat sich geändert?
Am KSW gibt es neu ein Notfallzentrum für Erwachsene und Kinder und Jugendliche. Die räumliche Nähe erlaubt es, dass die verschiedenen Fachdisziplinen noch enger und zeitnaher zusammenarbeiten. Bei Kindern arbeiten die Fachexpertinnen und -experten häufig Hand in Hand, etwa bei einem Knochenbruch oder einer akuten Blinddarmentzündung.
Worauf wurde besonderes Gewicht gelegt?
Neben der Notfallstation haben wir eine Kindernotfallpraxis aufgebaut. Hier können Kinder mit bestimmten Krankheitsbildern wie Schnupfen oder leichtem Fieber künftig schneller behandelt werden. Das betrifft über die Hälfte der Fälle. Dank dieser Praxis wird auch die Notfallstation entlastet.
Und noch etwas zeichnet die Kindernotfallpraxis aus: An den Wochenenden sind hier Kinderärztinnen und -ärzte aus der Region Winterthur im Einsatz. Das fördert die Zusammenarbeit und garantiert eine optimale Versorgung durch erfahrene Fachleute.
Was ist auf einer Notfallstation für Kinder zentral?
Das Kind und seine Eltern mit ihren Sorgen und Ängsten stehen 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr im Mittelpunkt unserer Arbeit. Auf das Kind in seiner jeweiligen Entwicklungsphase altersgerecht einzugehen, ihm spielerisch die Angst zu nehmen und es in seiner Sprache abzuholen, ist dabei absolut zentral. Verbunden mit einem hohen Expertenwissen, modernster Infrastruktur und optimierten Prozessabläufen ist es unser Ziel, für Kind und Eltern in der schwierigen Situation des Krankseins ein vertrauenerweckender Partner zu sein.