Verstehen und helfen
Meine Kollegin hat sich plötzlich seltsam verhalten. Mitten im Gespräch hörte sie auf zu reden und rang nach Worten, es kamen aber nur einzelne Silben aus ihrem Mund. Ich war erstaunt, als sie mir kurze Zeit später wieder völlig normal sagte, sie habe einen epileptischen Anfall gehabt. Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt.» Eine typische Aussage von jemandem, der zum ersten Mal einen epileptischen Anfall miterlebt.
Die Anfälle machen sich nicht immer deutlich bemerkbar – und wenn doch, dann nicht zwingend auf die Art und Weise, wie das in vielen Köpfen verankert ist: durch Zuckungen oder Krämpfe, verbunden mit Stürzen, Schaum vor dem Mund, einer Entleerung der Blase und ohne dass sich Betroffene daran erinnern. Der Verlauf von epileptischen Anfällen ist nämlich bei jedem Menschen anders und wird von vielen Faktoren beeinflusst. Epileptische Anfälle und Epilepsie sind die am weitesten verbreiteten Krankheiten des Gehirns – dennoch wissen viele Menschen nicht, wie sich solche Anfälle zeigen können. Und vor allem, wie man in einer solchen Situation richtig reagiert.
Ein Feuerwerk im Kopf
Fast jeder kann sich unter einem epileptischen Anfall etwas vorstellen. Doch was passiert überhaupt bei einem Anfall? Im Grunde kann man epileptische Anfälle als Folge einer Überreizung oder Überflutung der Nervenzellen im Gehirn beschreiben. Diese Spannung muss sich entladen, und das passiert über den Anfall: Er ist also quasi ein Feuerwerk im Kopf. Die Ursachen einer solchen Überflutung sind vielfältig: erblich bedingte Veranlagung, Stoffwechselstörungen, Missbildungen oder Schäden am Gehirn, Entzündungen, Traumata oder Hirntumoren. Zudem gibt es äussere Auslöser, die einen Anfall «provozieren» können, so beispielsweise Situationen, die enormen Stress verursachen, Schlafmangel, gewisse Medikamente, übermässiger Konsum von Alkohol oder anderen Drogen oder Fieber.
Durch eine starke Provokation kann auch ein einmaliger Anfall bei einer Person auftreten, die sonst nicht betroffen ist. Deshalb ist es wichtig, zwischen epileptischen Anfällen und Epilepsie zu unterscheiden: Von Epilepsie wird erst bei unprovozierten und wiederholten Anfällen oder bei einem einmaligen Anfall mit Hinweisen auf eine hohe Wiederholungsgefahr gesprochen. Hinweise auf eine solche Gefahr sind beispielsweise strukturelle Hirnveränderungen.
«Kaum etwas ist so komplex wie das menschliche Gehirn.»
Ursache unbekannt
Der wichtigste Aspekt bei der Diagnose eines Anfallsleidens ist das Erheben von Informationen bei Betroffenen und Zeugen eines Anfalls – da viele Anfälle mit einer zeitweisen oder vollständigen Bewusstseinsstörung einhergehen, können Betroffene selbst oft wenig zum Geschehen sagen. Unter anderem deshalb ist es auch so wichtig, dass Zeugen bei der Person bleiben, die gerade einen Anfall hat. Hat eine Person nämlich zum ersten Mal einen Anfall, ist dies immer Grund für eine weitere Abklärung durch Fachpersonen, um die Wertigkeit und die Ursache des Anfalls zu eruieren.
Um alle Einflussfaktoren zu ermitteln, wird ausser auf Gespräche mit Betroffenen und Zeugen vor allem auf den Einsatz von Elektroenzephalographie (EEG) und bildgebenden Verfahren wie Computertomographie (CT) und Magnetresonanztomographie (MRT) sowie Blut- und Nervenwasseruntersuchungen gesetzt. Bei Kindern ist die häufigste Ursache eine erbliche Veranlagung, während es bei älteren Personen mit den Jahren zu Veränderungen im Gehirn gekommen ist und die Ursache deshalb oft vaskulärer (Hirnschlag) oder degenerativer Art (Demenz) ist. Doch trotz eingehender Untersuchung kann die Ursache für einen Anfall nicht immer gefunden werden – denn kaum etwas ist so komplex wie das menschliche Gehirn.
Art und Form von Anfällen
Je nach Anzahl und Lage der Nervenzellen, die sich bei einem Anfall entladen, kann auf die Art oder Form des Anfalls geschlossen werden: Von fokalen Anfällen spricht man, wenn die Entladung von einem bestimmten Ort oder Bezirk in der Hirnrinde ausgeht und auf bestimmte Hirnbereiche beschränkt bleibt. Generalisierte Anfälle hingegen treten auf, wenn beide Hirnhälften von der Entladung betroffen sind – entweder von Anfang an oder aufgrund einer Ausbreitung während des Anfalls.
Dementsprechend zeigen sich die Anfälle für Betroffene und Aussenstehende sehr unterschiedlich. In manchen Fällen äussert sich der Anfall nur in einem Aussetzer (einer sogenannten Absence), der bloss wenige Minuten andauert (siehe Beispiel am Anfang des Artikels). Bei einer starken Epilepsie hingegen kann es auch zu Zuckungen eines Körperglieds, automatischen Handlungsmechanismen (Nesteln, Schmatzen) oder Bewusstseinserscheinungen kommen. Daneben gibt es den klassischen Grand-Mal-Anfall mit Streckkrämpfen und rhythmischen Zuckungen. Oft laufen die einzelnen Anfälle bei einem Epileptiker sehr ähnlich oder sogar gleich ab. Nach einem Anfall folgt meist eine Phase der Erschöpfung, die unter anderem mit einer halbseitigen Lähmung einhergehen kann.
«Genau wie jeder Mensch individuell ist, so ist es auch das Gehirn.»
Epilepsie am KSW
Die Abklärung und Behandlung von Patientinnen und Patienten mit anfallartigen Störungen oder epileptischen Anfällen ist sehr komplex. Genau wie jeder Mensch individuell ist, so ist es auch das Gehirn – was Anamnese, Diagnose und Behandlung von epileptischen Anfällen zu einer Herausforderung macht. Deshalb ist die Beschreibung der Situation oder des Anfalls durch Betroffene und Drittpersonen besonders wichtig, denn diese Informationen können sehr aufschlussreich sein. Nach der neurologischen klinischen Untersuchung werden die Messung der elektrischen Hirnaktivität (EEG) und eine Darstellung des Gehirns mittels MRT angeboten.
Wenn eine Epilepsie diagnostiziert wird, werden mit der Patientin oder dem Patienten die Therapiemöglichkeiten umfassend diskutiert, bevor eine Therapie in die Wege geleitet wird. Diese besteht in der Regel aus der Gabe von anfallsunterdrückenden (antikonvulsiven) Medikamenten. Die Betroffenen werden zu allen Aspekten der Beeinträchtigung (z.B. beruflich, sozial, im Hinblick auf Kinderwunsch und Schwangerschaft oder Fahreignung) individuell beraten und je nach Bedarf in drei- bis zwölfmonatigen Abständen in der Sprechstunde für Epilepsie nachbetreut.
Die Langzeit-EEG-Untersuchungen und epilepsiechirurgischen Abklärungen bei komplexen Fällen werden in Kooperation mit der Schweizerischen Epilepsie-Klinik Lengg vorgenommen. Im Rahmen von monatlichen Treffen werden lehrreiche Fälle mit den Fachpersonen aus der Kinderneurologie unter Beizug eines schweizweit ausgewiesenen EEG-Experten der Schweizerischen Epilepsie-Klinik besprochen.
In wenigen Schritten helfen
Der einzelne epileptische Anfall ist kein Notfall, er schädigt das Gehirn nicht und hört in der Regel von selbst wieder auf. Die Aufgabe der Personen, die einen Anfall miterleben, besteht vor allem darin, das Umfeld zu sichern und die betroffene Person vor weiteren Verletzungen zu schützen. Damit aber Angehörige, Freunde und auch Fremde entsprechend handeln können, müssen sie gut informiert sein. Deshalb hat die Schweizerische Epilepsie-Liga eine Kampagne gestartet, welche die Bevölkerung für das Thema Epilepsie sensibilisieren soll. In wenigen einfachen Schritten kann man der oder dem Betroffenen beistehen und die Situation richtig interpretieren. Viele Menschen wissen nicht, wie sie in einer solchen Situation reagieren sollen, und sind dann verständlicherweise überfordert. Dabei sind für das «richtige Helfen» keine medizinischen Vorkenntnisse nötig. Es kann also jeder helfen.
«Viele Menschen wissen nicht, wie sie in einer solchen Situation reagieren sollen.»
In drei Schritten helfen
1. Vor Verletzungen schützen
Um Verletzungen zu vermeiden, sollte nicht in das Anfallsgeschehen eingegriffen werden. Es ist jedoch möglich, Schutzmassnahmen zu ergreifen: So kann der oder dem Betroffenen beispielsweise ein Kissen unter den Kopf gelegt werden. Ausserdem sollten in unmittelbarer Nähe keine gefährlichen Gegenstände (spitze Gegenstände, Geschirr, heisser Tee etc.) sein, falls es zu Zuckungen kommt. Ausserdem sollte man der oder dem Betroffenen nichts zwischen die Zähne schieben, da die Verletzungsgefahr einen allfälligen Nutzen übersteigt.
2. Dabei bleiben
Die meisten Anfälle dauern weniger als drei Minuten. Oft sind Betroffene danach aber etwas dämmrig, verwirrt oder müde. Deshalb sollten sie nicht allein gelassen werden.
3. Beobachten
Dauert der Anfall länger als fünf Minuten oder treten in kurzen Abständen weitere Anfälle auf, sollte der Notarzt oder die Ambulanz alarmiert werden.
Informieren und aufklären
Du hast selbst epileptische Anfälle oder schon bei anderen welche miterlebt? Dann informiere dich selbst und dein Umfeld über das richtige Verhalten. Mehr Informationen dazu findest du unter www.epi.ch.